Szene 1
THOMAS Guten Tag. Ich…
(Sie überreicht ihm einen Briefumschlag.)
LUCIE Hier. Persönlich abgeben. Auf keinen Fall in den Briefkasten.
THOMAS Aber…
LUCIE Auf keinen Fall in den Briefkasten.
THOMAS Ich bin kein Kurier.
LUCIE Und was sind Sie dann?!
THOMAS Ihr Nachbar von unten. Und es regnet in mein Wohnzimmer. LUCIE Scheiße!
(Sie rennt davon.)
THOMAS Scheiße, allerdings. Kann ich Ihnen helfen?
(Thomas kommt hinein und schließt die Tür.)
LUCIE Das war meine Badewanne. Ich hab etwas anderes angefangen und sie total vergessen.
THOMAS Besser als ein Wasserrohrbruch.
LUCIE Klar. Sie sagen mir dann, wie hoch der Schaden ist. (Lucie öffnet die Tür, Thomas rührt sich nicht.)
THOMAS Baden Sie öfter um vier Uhr nachmittags?
LUCIE Was stört Sie daran? Die Uhrzeit oder die Körperpflege? THOMAS Mich stört gar nichts. Hab ich nur so gefragt.
LUCIE Kein guter Moment für Smalltalk. Ich habe gerade einen Wasserschaden.
THOMAS Ach. Sie auch?
LUCIE Ich bin durcheinander wegen der Überschwemmung, okay? Ich ersetze den Schaden. Ich will Sie nicht aufhalten. Sie haben sicher
einiges aufzuwischen.
THOMAS Entschuldigung, aber… hab ich Ihnen was getan? LUCIE Nein. Warum?
THOMAS Ich finde Sie ziemlich aggressiv.
LUCIE Sie meinen direkt?
THOMAS Nein, ich meine aggressiv.
LUCIE Das tut mir leid. Aber Sie stören mich. Ich habe gerade gearbeitet und würde gerne weitermachen.
THOMAS Ihre Wanne hat angefangen, nicht meine Decke.
LUCIE Ich habe doch gesagt, dass ich den Schaden bezahle! Was wollen Sie denn noch?
THOMAS Sind Sie immer so?
LUCIE „Immer“, „nie“, „öfter“. Lernen Sie gerade die Temporaladverbien?
THOMAS Nein. Ich wusste nicht mal, dass das Temporaladverbien sind. Ich hab nie so ganz kapiert, was das eigentlich ist.
LUCIE Soll ich es Ihnen erklären?
THOMAS Eigentlich nicht.
LUCIE Das ist auch eins.
THOMAS Was?
LUCIE Ein Adverb.
THOMAS Vielleicht geben Sie mir doch kurz eine Definition?
LUCIE Ein Adverb ist ein unveränderliches Wort, das Verben, Adjektive oder Substantive qualitativ oder quantitativ modifiziert.
THOMAS Danke. Jetzt sehe ich sehr viel klarer.
LUCIE „Jetzt“, „sehr“, „viel“ und „klarer“ sind auch Adverbien.
THOMAS Sind Sie Lehrerin?
LUCIE Wieso? Weil ich weiß, was ein Adverb ist?
THOMAS Nein. Weil Sie um vier Uhr nachmittags baden. War nur ein Witz. Noch eine Frage, dann geh ich.
Wenn Sie keine Lehrerin sind, was machen Sie dann?
LUCIE Ich schreibe.
THOMAS Wem?
LUCIE Ich schreibe fürs Theater.
THOMAS Echt? Sind Sie bekannt?
LUCIE Einigermaßen. In bestimmten Kreisen.
THOMAS Was haben Sie denn so geschrieben?
LUCIE Sie werden es nicht kennen, und dann wird’s peinlich. THOMAS Aber nein.
LUCIE Aber ja.
THOMAS Ich schwöre, dass es mir nicht peinlich ist.
LUCIE Ich habe nicht von Ihnen gesprochen.
THOMAS Nur nicht so schüchtern. Vielleicht kenne ich etwas, nur vom Titel? LUCIE Glaub ich nicht.
THOMAS Wetten wir um eine Flasche Champagner.
LUCIE Ich trinke keinen Champagner.
THOMAS Dann um eine Flasche Cheval-Blanc? Château Margaux? Château Lafite? Romanée-Conti? Kommen Sie schon. Wie heißt ihr
bekanntestes Stück?
LUCIE „Innenleben“?
THOMAS Nein, das bekannteste.
LUCIE „Das Erbe“? „Schillern“? „Das zerbrochene Fenster“?
THOMAS Ich schulde Ihnen eine Flasche Cheval-Blanc.
LUCIE Ich habe Sie gewarnt. Und jetzt lassen Sie mich bitte alleine. THOMAS Es ist eine Ehre für mich, eine so berühmte Nachbarin zu haben. LUCIE Hält sich in Grenzen, wie Sie sehen.
THOMAS Das hat doch nichts zu sagen. Ich habe keine Ahnung vom Theater. Ich hab vielleicht ein oder zwei Stücke von Molière gesehen, das
war’s. Ich bin sicher, Sie sind eine Autorin, die… Oder sagt man besser
Schriftstellerin?
LUCIE Das möchte ich nicht ausdiskutieren. Interessiert mich nicht. THOMAS Okay. Ich verstehe. Na dann.
LUCIE Auf Wiedersehen.
THOMAS Sie hätten mich fragen können: „Und Sie?“
LUCIE Und Sie?
THOMAS Nicht „Und Sie?“ „Und was machen Sie so?“ Höflichkeit unter Nachbarn.
LUCIE Was machen Sie so?
THOMAS Ist nicht so wichtig. Sie werden es nicht kennen, und dann wird’s peinlich.
LUCIE Okay. Das war nicht nett. Wollen Sie mir verraten, was Sie machen? THOMAS Sie sind nicht freundlich, aber immerhin neugierig. (Sie schlägt ihm die Tür vor der Nase zu.)
szene 2
Es klingelt. Lucie öffnet die Tür.
THOMAS Ich hab drüber nachgedacht. „Dramatikerin“ ist genauer. LUCIE Wie bitte?
THOMAS Besser als Schriftstellerin. Dramatikerin ist besser. Genauer.
LUCIE Sicher. Das sage ich beim nächsten Mal. Also. Ihre Kinder warten schon auf Sie.
THOMAS Die sind in der Schule.
LUCIE Es zieht.
THOMAS Das ist wahr.
(Er geht in die Wohnung und schließt die Tür)
LUCIE Ich habe Sie nicht hereingebeten.
THOMAS Ich hab das so verstanden.
LUCIE Was wollen Sie denn noch?
THOMAS Eine kleines Autogramm.
LUCIE Ach bitte nicht… Ich hasse Autogramme. Das ist lächerlich, eine falsche Vertrautheit. Außerdem kennen Sie meine Arbeit nicht, das
hat so gar keinen Sinn!
THOMAS Ich meinte eine Unterschrift unter die Schadensmeldung… wegen des Wasserschadens.
LUCIE Oh ja, Äh. Legen Sie es da hin. Oder nein. Sagen Sie, was ich Ihnen schulde. Ich gebe es Ihnen sofort.
THOMAS Sind Sie nicht versichert?
LUCIE Natürlich bin ich versichert.
THOMAS Dann ist das dumm.
LUCIE Und was geht Sie das an? Sind Sie bei der Versicherung? THOMAS Nein, bin ich nicht, ich bin…
LUCIE Pst! Sagen Sie nichts! Lassen Sie mich raten. Sie sind… Sie sind… Sie sind auf jeden Fall kein Intellektueller.
THOMAS Danke.
LUCIE Sind Sie ein Intellektueller?
THOMAS Nein.
LUCIE Eben. Sie sind zwischen 40 und… 65 Jahre alt. THOMAS Auf zwei, drei Wochen genau.
LUCIE Sie sind verheiratet, zwei Kinder. Sie wohnen in einer schönen Wohnung im 9. Arrondissement. Sie sind gepflegt, haben eine
lächerliche Tasche und interessieren sich für Versicherungen. Ich
weiß es: Sie sind Banker!
THOMAS Nein, Nein. Ich bin Steuerberater.
LUCIE Ist doch so was Ähnliches.
THOMAS Das ist doch nichts Ähnliches.
LUCIE Arbeiten Sie für eine Bank?
THOMAS Das kommt vor.
LUCIE Sehen Sie, Sie sind Banker.
THOMAS Dann sind Sie Holzfällerin.
LUCIE Was?
THOMAS Holz, Papier, Papier, Bücher. Ist so was Ähnliches. Sie sind Holzfällerin.
LUCIE Sie sind ein schlechter Verlierer!
THOMAS Wenn Sie wollen, erkläre ich Ihnen gerne den Unterschied.
LUCIE Nein danke. Banken, Steuern, Zahlen, das hasse ich. Ich muss nur dran denken, schon wird mir schlecht.
THOMAS Unglaublich, wie ähnlich Sie Ihrer Figur sind.
LUCIE Wie bitte?
THOMAS Wie Lucie in „Das Erbe“. Kalt und spröde.
LUCIE Sie haben „Das Erbe“ gelesen?
THOMAS „Kalt und spröde“ stört Sie nicht. Aber dass ich lesen kann, das haut Sie um.
(Thomas holt das Buch aus der Tasche.)
THOMAS Ich bin in die Buchhandlung am Ende der Straße gegangen. Ich habe Ihr Buch bei einem Buchhändler gekauft, der genau wie ein
Buchhändler aussah. Und ich habe die 112 Seiten Ihres Stücks
gelesen.
LUCIE Auf einmal? Bravo.
THOMAS War nicht so schwer, es ist groß gedruckt.
THOMAS Der Buchhändler hat mir geraten, mit „Das zerbrochene Fenster“ anzufangen, aber das hatte er nicht da. Also „Das Erbe“. Ich fand es
sehr… irgendwie… na ja, wissen Sie… Also echt… Es hat mich
irgendwie berührt. Nein, es hat mich gepackt. Okay, es ist nicht
richtig witzig, aber es ist packend.
LUCIE Ich sag denen, sie sollen auf die nächste Auflage schreiben „Nicht richtig witzig, aber echt packend“.
THOMAS Es soll doch auch gar nicht witzig sein.
LUCIE Was sind denn das für Kategorien, witzig oder nicht witzig. Ich weiß gar nicht, warum ich mit Ihnen rede.
THOMAS Haben Sie über die Geschichte gelacht?
LUCIE Ich finde schon, dass sie Humor hat.
(Thomas dreht das Buch um.)
THOMAS (liest) „Verdun. Isabelle flieht vor dem Krebs, der ihren verhassten, aber unersetzlichen Ehemann André langsam tötet, in den Alkohol.
Ihre Tochter ist die einzige Zeugin dieses herannahenden Todes.“ In
sechzehn Bildern von furchtbarer Grausamkeit legt Lucie Arnaud die
Fundamente ihres Schreibens. Scharf wie ein Skalpell: Die
Verweigerung der Kunst wird zur Kunst, die Verweigerung des Stils
zum Stil, die Verweigerung des Theaters zum Theater.
LUCIE „Die Verweigerung des Theaters…“ Was für Arschlöcher. THOMAS Da steht auch nicht, dass es sehr humorvoll ist.
LUCIE Man sollte die vierte Umschlagsseite nicht lesen. Theaterstücke übrigens auch nicht. Theater ist nichts zum Lesen. Man muss es
hören. Sonst ist es, als würde man eine Straßenkarte anschauen,
um etwas von der Landschaft zu spüren. Das klappt nicht.
THOMAS Gilt das auch für Sie? Können auch keine Theaterstücke lesen? LUCIE Meine schon.
THOMAS Beweisen Sie’s mir.
LUCIE Was?
THOMAS Lesen Sie mir was vor.
LUCIE Nein.
THOMAS Zwei Seiten, dann gehe ich. Eine Seite, dann geh ich. Keine Seite, dann bleib ich.
LUCIE Eine halbe Seite, und Sie gehen. Sehen Sie, Sie lachen schon. (Es klingelt an der Tür.)
LUCIE Moment.
(Sie öffnet. Dialog im Off. Sie kommt mit einer Pizza zurück)

THOMAS Ich lasse Sie essen. Die Lesung holen wir nach. LUCIE Danke.
THOMAS Wollen Sie das etwa essen?
LUCIE Nein, ich werd’s mir einrahmen.
THOMAS So was essen Sie zum Frühstück?
LUCIE Das ist mein Abendessen. Ich war noch nicht im Bett. THOMAS Sie können das nicht essen.
LUCIE Ist aber sehr gut.
THOMAS Nein, das ist nicht sehr gut. Das ist alles Mögliche, aber nicht sehr gut. Riechen Sie mal.
LUCIE Also…
THOMAS Bitte riechen Sie mal.
(Sie riecht.)
THOMAS Schließen Sie die Augen. Und?
(Sie schließt widerwillig die Augen.)
LUCIE Was und?
THOMAS Was sehen Sie vor sich? Venedig? Die Gondeln in Venedig? Die Kanalisation von Venedig?
LUCIE Bei uns kocht mein Mann, und der ist nicht da. (Er macht den Karton wieder zu.)
THOMAS Ich hab noch was vom Frikassee, ich bring es Ihnen rauf. LUCIE Nein danke.
THOMAS Mögen Sie kein Frikassee? Karotten, Zwiebeln, Kräuter, Weißwein… und alles drei Stunden auf ganz, ganz kleiner Flamme köcheln…
LUCIE Ich möchte nichts von Ihrem Frikassee, Herr Nachbar. THOMAS Ist ein Rezept von meiner Mutter.
LUCIE Das ist sehr nett, aber ich möchte nicht.
THOMAS Dauert nur fünf Minuten!
LUCIE Sie müssen jetzt wirklich gehen.
THOMAS Nur zum Probieren!
LUCIE Es reicht jetzt! Ich habe nein gesagt!
szene 3
LUCIE Hat sehr gut geschmeckt.
THOMAS Halleluja.
(Thomas gießt ihr ein Glas Cheval-Blanc ein.)
LUCIE Ich hab’s sonst nicht so mit Frikassees.
THOMAS Sonst ist es auch nicht das Rezept von meiner Mutter. (Sie probiert den Wein.)
LUCIE Nicht schlecht.
THOMAS Ein Cheval-Blanc 1995, der ist allerdings nicht schlecht!
LUCIE Sie trinken nichts?
THOMAS Nie vor 10 Uhr morgens.
(Thomas nimmt den Pizzakarton und geht zum Fenster.)
THOMAS (schaut aus dem Fenster) Sie haben Glück. Bei mir ist die Aussicht nicht so schön.
(Er öffnet das Fenster und schmeißt die Pizza raus.)
Von hier sieht man sogar den Turm der Trinité.
LUCIE Entschuldigung, haben Sie gerade meine Pizza aus dem Fenster geworfen?
THOMAS Ja. Ich traue Ihnen zu, sie sogar kalt zu essen. LUCIE Ich hätte sie tatsächlich gerne morgen gegessen. THOMAS Morgen……….. gibt es Lachs in Dillsauce!
LUCIE Wird Ihre Frau nicht eifersüchtig, wenn Sie die Nachbarin füttern? THOMAS Ich füttere ja schon Monsieur Bertier.
LUCIE Wen?
THOMAS Monsieur Bertier aus dem ersten Stock. Ein alter Herr mit südlichem Akzent.
LUCIE Wie sieht er aus?
THOMAS Na ja, wie ein alter Herr mit südlichem Akzent… LUCIE Welcher Schauspieler könnte ihn spielen?
THOMAS Hm… am ehesten… Gérard Depardieu! Nur kleiner und mit weniger Haaren.
LUCIE Also Louis de Funès.
THOMAS Genau. Nur größer.
LUCIE Kennen Sie nur einen Schauspieler?
THOMAS Zumindest kenne ich nicht nur einen Nachbarn. LUCIE Ich lade mich nicht nach zwei Tagen bei Leuten ein. THOMAS Bertier und sein Hund wohnen schon seit 20 Jahren hier.
LUCIE Ist das der Herr mit der Schieberkappe und dem kleinen weißen Hund?
THOMAS Ja.
LUCIE Das ist Bertier? Ich war sicher, das ist Aslanian. THOMAS Nein, Aslanian wohnt im zweiten Stock.
LUCIE Verrückt. Ich war sicher, dass dieser kleine Herr Armenier ist… Dass er Baklava isst und dabei Aznavour hört… Ich habe mir vorgestellt, er
wäre Juwelier in der Rue de Trévise…
THOMAS Er war kaufmännischer Leiter bei den Stadtwerken. Und Aslanian ist Zahnarzt und ungefähr 35.
LUCIE Wir haben einen Zahnarzt im Haus?!
THOMAS Zwei sogar. Seine Frau ist auch Zahnärztin.
LUCIE Eine Blonde mit großem Brüsten und grünen Augen?
THOMAS Das mit den Augen weiß ich nicht, aber das müsste sie sein. Ich muss dann los. Den Abwasch machen Sie. Bis bald.
LUCIE Wo Sie schon das ganze Haus kennen: Wissen Sie zufällig, wer da immer singt?
THOMAS Sehr laut und sehr falsch?
LUCIE Ja.
THOMAS Ich.
LUCIE Oh.
THOMAS Wenn Sie wollen, singe ich leiser.
LUCIE Mir wäre lieber, Sie singen richtiger.
THOMAS Das geht nicht, leider. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. LUCIE Aber Sie geben nicht auf.
THOMAS Natürlich nicht. Nur weil man etwas nicht kann, ist das kein Grund, es nicht zu machen.
LUCIE Ich könnte das nicht.
THOMAS Nein?
LUCIE Ich kenne meine Grenzen zu gut. Deshalb koche ich nicht, mache keinen Sport, keine Musik und versuche nicht mal, nett zu sein.
THOMAS Aber Sex haben Sie schon ab und zu?
LUCIE Ab und zu.
THOMAS Okay. Den Abwasch machen Sie.
LUCIE Das haben Sie schon gesagt.
THOMAS Dann bis bald.
LUCIE Das haben Sie auch schon gesagt.
THOMAS Okay… Non, je ne regrette rien
szene 4
In der Mitte des Zimmers duckt Lucie sich ängstlich. An der Wand hängt ein Bild schief. Thomas betritt die Wohnung durch die angelehnte Tür.
LUCIE Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.
THOMAS Was ist los? Haben Sie sich den Hals verrenkt? LUCIE Das Bild.
THOMAS Das Bild… Soll ich es wieder gerade hängen?
LUCIE Bitte.
THOMAS Sie wollten mich wirklich unbedingt sehen.
LUCIE Ich weiß, dass das albern ist. Es tut mir leid. Aber es hat mich so gestört, dass ich nicht mehr schreiben konnte.
THOMAS Das Bild!?
LUCIE Ich wollte mich konzentrieren, aber ich konnte an nichts anderes denken. Ich habe ein Problem mit Sachen, die asymmetrisch sind.
THOMAS Interessant.
LUCIE Mir ist das peinlich. Ich habe versucht, es selbst zu machen, aber es ging nicht.
(Sie reibt sich den Arm, als hätte sie Schmerzen.)
THOMAS Was ist los?
LUCIE Ein chronischer Schmerz.
THOMAS Was?
LUCIE Schmerzen, die nicht aufhören.
THOMAS Ich weiß, was chronisch heißt. Ich hab’s nicht so mit Adverbien, aber mit Adjektiven kenn ich mich aus.
LUCIE Keiner weiß, was es ist. Rheumatismus, Einbildung oder eine Kapselentzündung? Keine Ahnung. Der Arzt hat mir nur gesagt, dass
ich nicht Golf spielen oder rudern soll.
THOMAS Scheiße, nicht mal rudern… Zum Glück können Sie noch Rollschuh fahren und Trampolin springen. (lacht)
LUCIE Sie sollten nicht über Ihre eigenen Witze lachen. THOMAS Ich versuche, es richtig vorzumachen.
LUCIE Klappt das?
THOMAS Mit Bertier schon. Er hört nicht gut. Es gibt ihm Hinweise. LUCIE Wie geht’s dem guten alten Bertier? Immer noch kein Juwelier?
THOMAS Er hat mir erzählt, dass wir einen Star im Haus haben. Inspektor Fango! Den kennen Sie sicher nicht.
LUCIE Das ist mein Mann.
THOMAS Was?! Sie sind die Frau von Inspektor Fango? LUCIE Ich bin die Frau von Daniel Ferran.
THOMAS Das gibt es doch nicht… Meine Kinder sind verrückt danach. Die „suchten das Staffelweise weg“.
LUCIE Gut so.
THOMAS Ich fass es nicht. Sie sind wirklich seine Frau?
LUCIE Bis auf Weiteres, ja.
THOMAS Dann kennen Sie ihn gut, oder?
LUCIE Ich glaub schon.
THOMAS Natürlich. Das ist echt verrückt. Warum hab ich ihn noch nie getroffen?
LUCIE Er dreht die neue Staffel in Marseille.
THOMAS Unglaublich. (Mit verstellter Stimme) „Hölle oder Paradies, das entscheidet Gott. Ich sorge nur für das Rendez-vous.“
Ich kann’s nicht so gut nachmachen.
LUCIE Tut mir leid, ich kenn’s nicht. Das heißt, ich kenn es schon, aber ich schaue es mir nicht an.
THOMAS Sie gucken seine Serie nicht?
LUCIE Nein.
THOMAS Sie schauen seine Serie nicht an?
LUCIE Nein.
THOMAS Oh Gott. Weiß er das?
LUCIE Wir haben gar kein Netflix.
THOMAS Aber liest er Ihre schon Stücke?
LUCIE Im letzten hat er sogar mitgespielt.
THOMAS Sie machen das also nicht aus Prinzip.
LUCIE Er ist ein toller Schauspieler. Er kann alles, aber mich interessiert nicht alles.
THOMAS Sie schauen also echt seine Serie gar nicht an. LUCIE Schaut Ihre Frau etwa Ihre Akten durch?
THOMAS Jetzt sind Sie sauer.
LUCIE Bin ich nicht.
THOMAS Sind Sie doch.
LUCIE Und was essen wir morgen?
szene 5
LUCIE (off) Wir haben in Verdun gelebt. Mein Vater war Direktor einer Textilfabrik. Er war ein Monster. Alle hatten Angst vor ihm. Meine
Mutter war dumm und böse. Sie hat mir auch Angst gemacht.
Meine Eltern waren schreckliche Eltern, aber große Charaktere…
Als ich fünf war, ist mein großer Bruder ertrunken. Mein Vater hat
sich davon nie erholt. Er hat sich in die Arbeit gestürzt. Meine
Mutter hat sich in den Alkohol geflüchtet. Sie sagte immer zu mir:
„Warum hat es nicht dich erwischt? Warum hat man mir meinen
Sohn genommen?“
THOMAS Sonst hat sie Ihnen nichts gesagt?
LUCIE Doch. „Ich will dich nicht mehr sehen. Hau ab.“ (Pause. Thomas fühlt sich sehr unwohl.)
THOMAS Und Ihre Großeltern?
LUCIE Sind gestorben.

THOMAS LUCIE
Alle vier?
Die Eltern meiner Mutter sind mit meinem Bruder ertrunken, und die meines Vaters sind an Krebs gestorben. Er Lungenkrebs, sie Hirntumor. Am Sonntag nach der Messe ging’s auf den Friedhof. Ich habe zwischen den Gräbern gespielt, während meine Mutter mit ihren Toten geredet hat. Meine einzigen Freunde waren die Bücher. Ich hatte das Tagebuch der Anne Frank gelesen und fand es wundervoll. Also habe ich wie sie mit zehn angefangen zu schreiben. Was mir passierte, habe ich in mein Tagebuch geschrieben und es mit meinen Barbie-Puppen nachgespielt. Eine Live-Autobiografie, ungefiltert. Später ist aus dem Alkoholismus meiner Mutter dann „Kindheit“ geworden, aus meiner Einsamkeit im Internat „Innenleben“. Dann wurde mein Vater krank, ein aggressiver Krebs. Nach ein paar Monaten war er tot, und meine Mutter ist endgültig im Wahnsinn versunken und wurde eingesperrt. Daraus wurde „Das Erbe“. Und wie war Ihre Kindheit?

THOMAS Sagen wir mal so: Wenn Sie Zola waren, war ich eher die Schlümpfe. Kein Verdun, kein Alkoholismus, kein Krebs. Ach doch. Papa hatte was
an der Prostata, aber das ist wieder okay. Er war Immobilienmakler,
das lief gut… Er liebt Tennis. Er ist ein alter Charmeur, das ist lustig.
Mama ist immer noch verliebt in ihn. Ich habe zwei Schwestern, die
große ist ein bisschen anstrengend, die kleine auch, aber wir verstehen
uns gut… Meine Kindheit war eher Grillen im Garten, Fußball spielen
und Strandurlaub in Biarritz. Es war schön. Tut mir leid.
LUCIE Freut mich doch für sie. Und keine Sorge, irgendwann machen sie ein Analyse, und dann kommt raus, dass doch alles nicht so toll war.
THOMAS Dann schreib ich auch ein Stück.
LUCIE Genau. „Strandurlaub in Biarritz“ wäre ein guter Titel. Vielleicht kriegen Sie dafür keine guten Kritiken, aber der Erfolg ist
vorprogrammiert.
THOMAS Ihrer ist ein bisschen rätselhaft.
LUCIE Mein Erfolg?
THOMAS Der Titel Ihres nächsten Stücks.
LUCIE Wovon reden Sie?
THOMAS „Arbeitstitel“. Ich finde das mysteriös.
LUCIE Wo haben Sie das denn gesehen?
THOMAS Auf dem Ticket. Ich habe mir eine Karte für Ihr Stück zur Saisoneröffnung gekauft, und da steht der Titel drauf.
LUCIE Es gibt Karten für mein Stück?
THOMAS Ja.
LUCIE Aber das kann nicht sein.
THOMAS Ich hab für den 2. September reserviert. Ist mein Geburtstag. LUCIE Sie wollen mich verarschen.
(Er zieht das Ticket aus seiner Tasche.)
THOMAS „Daniel Ferran in – ‚Arbeitstitel’ – ein Stück von Lucie Arnaud“. Erste Kategorie, 56 Euro.
LUCIE Das kann nicht sein…
THOMAS Ich fand’s auch ein bisschen teuer.
(Sie bekommt eine Panikattacke.)
LUCIE Bitte gehen Sie jetzt.
THOMAS Sie sehen nicht gut aus…
LUCIE Lassen Sie mich in Ruhe!
THOMAS Was ist denn los?
LUCIE Es ist los, dass es kein Stück gibt! Nichts! Kein einziges Wort! THOMAS Aber Sie schreiben doch jeden Tag…
LUCIE Ich sage Ihnen, es gibt kein einziges Wort. Ich schaffe es nicht! Und die verkaufen Karten!
THOMAS Haben sie Ihnen nicht Bescheid gesagt?
LUCIE Sicher haben sie mir Bescheid gesagt, aber… Ich bin selbst schuld, ich hab es ja gewusst. Ich wusste es. Ich bin so blöd!
THOMAS Was meinen Sie?
LUCIE Es war letztes Jahr. Ich konnte schon nicht mehr schreiben. Ich war deprimiert und verzweifelt. Ferran wollte unbedingt, dass wir auf eine Premiere gehen. Eine Inszenierung von Rosenblatt. Er dachte, das
würde mich ablenken. Ich war so fertig, dass ich mitgegangen bin. Es
war eine Qual… Ein Triumph, Blumen, Lachen, Tränen und
Champagner, viel Champagner… Alle haben den Autor gefeiert. Die
Schauspieler haben sich umarmt, als würden sie sich wirklich mögen.
Ich war neidisch, einfach nur neidisch. Ich hasse es, neidisch zu sein,
aber ich war’s. Ich war müde, und mein Ellbogen hat mir das Signal
gegeben, geh hier weg, hau ab, spring in ein Taxi, aber ich stand wie
festgenagelt an der Bar, gelähmt vom Alkohol, und als ich die Hand
auf meiner Schulter gespürt habe, war es schon zu spät.
THOMAS Was denn? Wessen Hand?
LUCIE Die von Joseph Rosenblatt. Dem Regisseur. Er schaut mich an und sagt: „Wie lange hast du schon nichts mehr geschrieben? Du wirst
spießig, du machst nichts, kreist nur noch um dich selbst, du denkst
nicht mehr an dein Publikum. Keine Ausflüchte mehr. Schreib was für
Ferran, nächstes Jahr kriegst du mein Theater.“ Ich will nein sagen,
nein, nein, aber da höre ich schon, wie ich ja sage, ja, ja. Ich bin so
blöd! Warum habe ich ja gesagt?
THOMAS Wollen Sie was trinken? Das wird schon. Sie haben ja noch Zeit. September! Das sind noch drei Monate!
LUCIE Ich dreh durch!
THOMAS Ach was. Niemand dreht durch. Sie stecken sicher voller Ideen. LUCIE Nein.
THOMAS Doch. Stellen Sie sich einfach vor…
LUCIE Ich stelle mir gar nichts vor. Ich hasse Vorstellungen. THOMAS Aber Lucie…
LUCIE Bitte lassen Sie mich.
THOMAS Ich glaube…
LUCIE Wenn Sie jetzt nicht gehen, gehe ich!
THOMAS Lucie, beruhigen Sie sich…
(Lucie verlässt türenknallend die
Wohnung.)
szene 6
Thomas (schläft) auf der Couch. Lucie kommt herein.
LUCIE Sie sind ja noch da…
THOMAS Ich war nicht sicher, ob Sie den Schlüssel mitgenommen haben. Wie geht’s?
LUCIE Ich glaube, ich höre auf zu schreiben.
THOMAS Können Sie irgendwas anderes?
LUCIE Nein.
THOMAS Da haben Sie die Antwort.
LUCIE Sie singen auch, obwohl Sie es nicht können.
THOMAS Aber das ist nicht mein Beruf.
LUCIE Manchmal träume ich davon, alles hinzuschmeißen. Mich für was Wichtiges zu engagieren. Ich sollte mich mal um andere kümmern,
um geschlagene Frauen oder verlassene Kinder.
THOMAS Die haben doch schon genug Probleme.
LUCIE Wie bitte?!
THOMAS Sehen Sie sich echt als Missionarin?
LUCIE Warum denn nicht?
THOMAS Sie gehen doch…normalerweise… nie aus dem Haus! Wenn das Unglück der Welt also nicht hier zu Ihnen kommt…
LUCIE Ich könnte es versuchen.
THOMAS Als Nachbar bin ich dagegen. Sie sind eine Schriftstellerin. Eine Dramatikerin, wollte ich sagen. Das können Sie. Dafür sind Sie
gemacht. (Er zögert.) Ich habe geweint, als ich „Das zerbrochene
Fenster“ gelesen habe. Ich weiß, man soll Stücke nicht lesen und ich
kann sie auch gar nicht lesen, aber ich hab geweint.
LUCIE Sie haben wirklich geweint?
THOMAS Ich hatte feuchte Augen. Sie können Menschen berühren. Das ist eine Gabe. Die können Sie nicht für sich behalten.
LUCIE Ich kann doch nur über mich sprechen. Aber mein Leben ist nicht mehr interessant. Mein letztes Stück war schon wieder ein Erfolg. Ich
habe einen wunderbaren Mann geheiratet. Wir haben eine schöne
Wohnung. Das ist furchtbar.
THOMAS Ganz furchtbar!
LUCIE Worüber soll ich denn schreiben? Darüber, dass sich Ferran ein neues Auto gekauft hat?
THOMAS Kommt auf die Marke an…
LUCIE Verstehen Sie nicht, dass ich das ernst meine? Ich habe nichts mehr zu erzählen. Es geht mir zu gut.
THOMAS Für jemanden, dem es zu gut geht, sind Sie ganz schön deprimiert. LUCIE Ich bin total deprimiert!
THOMAS Und dabei haben Sie gar keinen Grund.
LUCIE Ich weiß, aber das tröstet mich nicht. Das deprimiert mich nur noch mehr. Und das lähmt mich. Verstopft mich. Erdrückt mich.
THOMAS Warum schreiben Sie nicht darüber? Über dieses Gefühl?
LUCIE Weil das ein Zustand ist und kein Thema! Zum Schreiben braucht man eine Geschichte. Ein Thema. Im Theater ist das Wort kein Gerede,
sondern Handlung.
THOMAS Sie sagen, dass Sie verstopft sind. Und was macht man bei Verstopfung?
LUCIE Also wenn man nur Pflaumen essen müsste, um wieder Inspiration zu haben, dann wüsste ich das. Oder einen Einlauf…
THOMAS Sie müssen neue Quellen der Inspiration entdecken. Sie müssen was erleben.
LUCIE Ich werde mir jetzt keine rostigen Nägel in die Brüste stoßen, um über Tetanus zu schreiben!
THOMAS Aber Sie könnten reisen! Raus in die Welt gehen!
LUCIE Ich schreib doch keinen scheiß Blog!
THOMAS Lucie… Wenn Sie nichts erfinden wollen, nichts aus ihrem Leben erzählen und keine neuen Erfahrungen machen wollen, bleibt Ihnen
nichts anderes übrig als zu warten, dass Ihnen was Schlimmes
passiert.
LUCIE Glauben Sie, das wird lang dauern?
szene 7
Lucie versucht zu schreiben. Schließlich nimmt sie das Telefon.
LUCIE Also, was essen wir heute Abend? Was heißt, Sie wissen es noch nicht? Sie lassen nach … Drei Tage ohne… Ich weiß auch nicht, was
Fettiges vielleicht! … Was, Sie essen nichts? Ist irgendwas? Machen
Sie sich keine Sorgen, ich kann mir eine Pizza bestellen…. Klar, sicher.
Schönen Abend noch..
(Es klopft an der Tür. Sie öffnet. Es ist Thomas.)
LUCIE (lächelt) Ich hab mich schon gefragt, ob Sie mich meine Quattro Stagioni essen lassen. Wäre ein Fall von unterlassener Hilfeleistung.
THOMAS Darf ich reinkommen?
LUCIE Natürlich. Was ist los?
THOMAS Ich fürchte, Sie brauchen einen neuen Koch.
LUCIE Warum?
THOMAS Ich muss ausziehen.
LUCIE Sie sind doch gerade erst eingezogen! Sie haben sicher noch nicht mal alles ausgepackt.
THOMAS Das erleichtert die Sache.
LUCIE Ich bin dagegen.
(Pause.)
THOMAS
Ich bin rausgeflogen.
LUCIE Einfach so. Das gibt’s doch gar nicht.
THOMAS So was passiert jeden Tag. Ich dachte, das regelt sich alles, aber…
LUCIE Haben Sie es kommen sehen? Waren Sie darauf vorbereitet? Können Sie dagegen nicht klagen?
THOMAS Nicht bei schwerer Veruntreuung.
LUCIE Was haben sie denn angestellt?
THOMAS Es war drei Tage vor Weihnachten. Jedes Jahr treffen sich die Mitarbeiter aller Zweigstellen in Paris. Da kamen die
Niederlassungen aus New York, aus London, aus Singapur… Die
großen Tiere, die Abteilungsleiter, die Geschäftspartner, alle waren
sie da. Ich sollte im Namen der Pariser Zentrale die Begrüßungsrede
halten. Für mich war das das erste Mal. Meine Chance, mal bei den
Großen mitzumischen… Es war ein Freitag. Ich bin früh gekommen.
Ich bin in den Kongresssaal gegangen und habe geübt. Ich hab mich
ans Rednerpult gestellt, den Ton geprüft und die Projektionen.
Und da hab ich sie gesehen.
LUCIE Wen?
THOMAS
Sie stand da, auf dem Tisch… Sie sah toll aus… Ein Kunstwerk. Mir
blieb die Luft weg. Ich hab mir gesagt, Thomas, tu das nicht. Schau
sie nicht an. Aber es war stärker als ich. Ich habe alles vergessen, die
Rede, die Chefs. Ich bin hingegangen, habe an ihr geleckt und sie
verschlungen.
LUCIE Wen?
THOMAS Die Weihnachtstorte! Eine gigantische Schoko-Vanille-Torte für 40 Personen!
LUCIE Eine Torte?
THOMAS Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Ich hab sogar den kleinen Schneemann aus Baiser gegessen, der oben drauf war.
LUCIE Machen Sie sich lustig über mich?
THOMAS Aber natürlich.
(Er platzt vor Lachen.)
LUCIE Sie sind wirklich ein Idiot. Ich hab Ihnen geglaubt! THOMAS So war’s gemeint.
LUCIE Warum haben Sie das gemacht?
THOMAS Sie sagen, dass Sie nicht schreiben können, weil in Ihrem Leben nichts passiert… Sie müssen doch nur behaupten, dass etwas passiert!
LUCIE Aber so schreibe ich nicht. Das hab ich Ihnen schon gesagt. Ich schreibe keine Fiktion. Ich erfinde nichts.
THOMAS Wenn Sie die einzige sind, die weiß, dass es nicht stimmt, dann ist es keine Erfindung, sondern eine Lüge.
LUCIE Das kann ich nicht.
THOMAS Aber Sie haben es doch schon gemacht. Im „Zerbrochenen Fenster“ erzählen Sie davon, wie Sie Ihre Eltern angelogen haben. Sie haben
gesagt, dass Sie in den
Kommunionsunterricht gehen, und sind ins Kino gegangen.
LUCIE Das stimmt… Aber das war nur eine kleine Lüge.
THOMAS Dann versuchen Sie es bei Ferran mit einer großen und warten auf seine Reaktion! Das erzeugt Spannung. Das gibt tolle Szenen!
LUCIE Aber was soll ich ihm denn sagen?
THOMAS Weiß ich nicht, was Verblüffendes, was Verrücktes! Okay. Was hat zurzeit Erfolg im Theater?
LUCIE Musicals und historische Dramen.
THOMAS Genau. Sie müssen ihm nur erzählen, dass Sie komplett das Genre wechseln und ein Musical über Charles De Gaulle schreiben!
LUCIE Den General?
THOMAS Nein, den Flughafen. Natürlich den General.
LUCIE Aber das ist absurd!
THOMAS Das ist doch das Lustige!
LUCIE Das geht nicht.
LUCIE
THOMAS Warum?
LUCIE Weil Ferran das super findet. Er liebt Uniformen. Wissen Sie, was dann passiert? Er fährt sofort in De Gaulles Geburtsort und macht
sich fit für die Rolle. Und ich sitze da und muss den Blödsinn
schreiben.
THOMAS Okay, suchen wir was Persönlicheres. Etwas, das ihn ins Herz trifft. LUCIE Ja, genau. Ich erzähle ihm, dass ich sterben muss! THOMAS Das geht nicht. Das können Sie nicht machen.
LUCIE Sie haben recht. Außerdem hatte ich das schon. Ja. Ich bin ein bisschen hypochondrisch. Bei jedem Schnupfen denke ich, es ist
ein Tumor, und sage Ferran, dass er mich ins Krankenhaus bringen
soll.
THOMAS Warum nennen Sie Ihren Mann Ferran?
LUCIE Weil er so heißt.
THOMAS Sie könnten ihn auch Daniel nennen.
LUCIE Den Namen mag ich nicht.
(Lucies nimmt eine Voicemail auf:)
LUCIE Hallo Schatz. Wie geht’s dir? Mir geht es nicht so gut. Ich glaube, ich würde lieber zu Hause bleiben.
(Lucie spricht mit Ferran und geht dabei auf und ab.)
(Sie schaut ihn fragend an. Er legt die Hand auf die Brust.)
LUCIE Mir ist schlecht.
(Thomas schüttelt den Kopf.)
LUCIE Nein, mir ist nicht schlecht. (Lucie versucht, Thomas’ Hinweisen zu folgen, so gut sie kann. Sie nimmt eine Katastrophen-Stimme an,
immer mehr durchsetzt von Krokodilstränen.) Ich habe, ich habe…
ich nicht blind. Auch nicht taub. Es ist…viel schlimmer… Ich kann
nicht…Das ist kompliziert, ich würde lieber später drüber reden…
(Sie schickt unvermittelt ab. Die beiden lachen sich tot.)
LUCIE Die Lunte…
THOMAS … ist gelegt!
szene 8
THOMAS Und? Wie ist es gelaufen?
Sie gibt ihm ein paar Blätter
LUCIE Lesen Sie.
LUCIE Den Anfang können Sie überspringen. Dann geht’s schneller.
THOMAS (liest) Lucie, ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest! … Ich sag es dir doch, Ferran, sie haben mir Dutzende Aufforderungen
geschickt. Ich hab die Umschläge nicht mal aufgemacht. Das geht
seit fünf Jahren so. Das…
LUCIE Können Sie auch leise lesen?
Thomas liest weiter und wird Ferran.
FERRAN Lucie, ich verstehe immer noch nicht, was du mir sagen willst!
LUCIE Also, Ferran, es ist so. Sie haben mir Dutzende Aufforderungen geschickt, aber ich hab sie nicht mal aufgemacht. Das geht seit fünf
Jahren so. Das kostet ein Vermögen. Die Bußgelder noch gar nicht
mitgerechnet! Ich wiederhole nur, was der Anwalt gesagt hat.
FERRAN Ich ruf ihn an.
LUCIE Du rufst niemanden an! Das bringt doch nichts. Was soll er dir denn sagen? „Heiraten Sie eine Frau, die ihre Post öffnet!“?
FERRAN Du übertreibst ganz sicher.
LUCIE Warum hörst du mir nicht zu? Du weißt doch, dass ich eine Verwaltungs-Phobie habe! Das ist alles meine Schuld.
FERRAN Beruhig dich, Lucie. Wir finden eine Lösung.
LUCIE Ach, hör auf! Hör auf, Ferran! Ich sag’s dir, es ist aus! Wir sind ruiniert! FERRAN Wie viel schuldest du ihnen?
LUCIE Viel.
FERRAN Das heißt?
LUCIE Ich weiß es nicht. (Lucie schreibt eine Zahl auf einen Zettel) Ungefähr so viel
FERRAN Was? Das ist ja total verrückt! Entschuldige. Ich wollte dich nicht anschreien. Wir werden es zurückzahlen, so gut es geht.
LUCIE Das reicht nicht. Ich verkaufe alles. Dann habe ich nichts mehr, aber das ist immer noch besser als das Gefängnis.
FERRAN Niemand geht ins Gefängnis. Gefängnis mögen wir nicht. Wir kriegen das hin. Und wenn wir es nicht hinkriegen, verkaufe ich das Chalet.
LUCIE Das ist dein Elternhaus!
FERRAN Mir egal. Wir fahren eh nie hin.
LUCIE Was heißt nie? Mindestens drei Mal im Jahr!
FERRAN Sag ich doch.
LUCIE Du bist da aufgewachsen! Das Haus ist voller Erinnerungen. FERRAN Na und? Ich lebe lieber mit dir als in der Erinnerung. LUCIE Ich bin so blöd! So furchtbar blöd!
FERRAN Blöd vielleicht, aber du schreibst ein tolles Stück! Das gibt es doch auch noch! Das Stück!
LUCIE Welches Stück?
FERRAN Das Stück, das du für mich schreibst!?
LUCIE Ja, also nein.
FERRAN Was heißt nein? Geht es nicht voran?
LUCIE Nein, also, ja.
FERRAN Ja oder nein?
LUCIE Nein, nein, ja.
FERRAN Also ja?
LUCIE Ja, ja. Ich hab nein zu nein gesagt und ja zu ja.
FERRAN Ach so. ich dachte, du sagst nein zu ja und ja zu nein. Aber ja! Das wird ein Riesenerfolg. Es wird auf der ganzen Welt gespielt.
Vielleicht ist diese Pleite eine Chance. Wir kommen zurück zum
Wesentlichen. Wir werfen den ganzen Ballast ab. Weißt du, was
passiert, wenn man das macht? Man beginnt zu fliegen.
(Thomas wir wieder Thomas)
THOMAS Hat er das wirklich gesagt?
LUCIE Ja, so ungefähr. Sinngemäß.
THOMAS Der Typ ist echt unglaublich.
LUCIE Klar ist der unglaublich. Ich hab doch keinen Idioten geheiratet.
THOMAS Sie sagen „Ich hab doch keinen Idioten geheiratet“ wie „Ich hab einen Idioten geheiratet“.
LUCIE Wie bitte?
THOMAS Sie sagen die Sachen so aggressiv, dass man glaubt, Sie sagen sogar aggressive Sachen, wenn sie nett sind.
LUCIE Sie sollten die Finger von der Psychologie lassen, Monsieur Moreau. THOMAS Monsieur Moreau!
LUCIE Ich habe Ihren Namen auf dem Briefkasten gesehen, als ich den Müll runtergebracht habe.
THOMAS Da, schauen Sie, schon wieder. Sie sagen „Ich habe Ihren Namen auf dem Briefkasten gesehen, als ich den Müll runtergebracht habe“.
Aber man hört „Ich habe Ihren lächerlichen Namen auf dem
Scheißbriefkasten gesehen“.
LUCIE Das nennt man genervt sein. Passiert Ihnen das nie?
THOMAS Klar passiert mir das, nicht so oft wie Ihnen, aber trotzdem… Jetzt verstehe ich gerade nicht ganz, warum sie genervt sind.
LUCIE Nicht? Ich sage meinem Mann, dass wir ruiniert sind, und er sagt nur, das ist die Chance unseres Lebens! Seit Jahren ertrage ich Schnee,
Kälte und die endlosen Raclettes, weil er dieses Haus so liebt! Und
plötzlich sagt er mir, dass es ihm egal ist… dass er’s auch einfach
verkaufen kann…
THOMAS Es ist ihm doch nicht egal. Er wollte nur…
LUCIE Ja, okay. Er ist ein ganz toller Mann. Fürsorglich. Großzügig. Freundlich. Aber so kann ich doch kein Stück schreiben! Was soll ich
mir denn noch ausdenken? Dass ich nach Syrien in den Dschihad
gehe?
THOMAS Haben Sie ihm nicht die Wahrheit gesagt? Glaubt er immer noch, dass Sie ruiniert sind?
LUCIE Sie sollten mal lieber an mein Stück denken als an ihn. Warten Sie mal, bis er erfährt, dass ich noch nichts geschrieben habe. Er reißt mir
die Augen raus, frisst sie in seinem Chalet und spült sie mit einer
Flasche Bärwurz runter. Lachen Sie nicht. Schauspieler kennen keine
Grenzen. Für eine Rolle begehen sie Morde. Sie sollten lieber Mitleid
mit mir haben. Mir müssen Sie helfen!
THOMAS Sonst wäre es unterlassene Hilfeleistung für eine Autorin in Not. LUCIE Ganz genau. Und das wird streng bestraft.
THOMAS Ich glaube, ich habe keine Wahl.
LUCIE Nein. (Pause) Also, was machen wir? Das Thema Geld funktioniert nicht…
THOMAS Ein Trauerfall?
LUCIE Hatte ich schon.
THOMAS Familie?
LUCIE Hatte ich schon.
THOMAS Scheidung.
LUCIE Hatte ich schon!
THOMAS Gruppensex.
LUCIE Hatte ich schon.
THOMAS Hatten Sie schon?
LUCIE Nein!
THOMAS Probieren Sie es doch damit! Das liegt im Trend, das wollen die Leute hören.
LUCIE Das ist so ein Modethema. Dann könnte ich ihm gleich sagen, dass ich pansexuell bin.
THOMAS Dafür kaufe ich gern meine Karte.
LUCIE Eben. Die Reaktionen sehe ich schon voraus.
THOMAS Gut, dann bleibt nur noch die Beziehung. Beziehungsgeschichten gehen immer gut.
LUCIE Über das Kennenlernen habe ich schon im „Zerbrochenen Fenster“ geschrieben.
THOMAS Aber das Kennenlernen ist nur der Anfang. Danach kommt die Beziehung. Warum bleibt man? Warum geht man? Das Leben zu
zweit ist immer noch das größte Rätsel des Lebens nach dem Leben
selbst.
LUCIE Das stimmt. Was nervt Sie am meisten an Ihrer Frau?
THOMAS Mich?
LUCIE Ja.
THOMAS Äh… nichts.
LUCIE Doch, sicher gibt es was. Was ist ihr häufigster Vorwurf? THOMAS Dass sie tot ist.
LUCIE Wie bitte?
THOMAS Sie ist bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Vor fünf Jahren. LUCIE Scheiße.
THOMAS Für eine Schriftstellerin ist die Zusammenfassung etwas knapp, aber so kann man es sagen.
LUCIE Das tut mir leid. Ich…
THOMAS Ist schon gut. Ich kenne die Reaktion. Das Schlimmste ist… Vorher hatte ich ihr oft vorgeworfen, dass sie zu präsent ist
LUCIE Hatten Sie Affären?
THOMAS Wie bitte?
LUCIE Wenn ein Mann seine Frau zu präsent findet…
THOMAS Wir haben jung geheiratet. Ich hatte ein paar Abenteuer. Aber ich habe nur sie geliebt.
LUCIE Und heute?
THOMAS Heute ist es noch genauso. Ich verliebe mich selten. So leicht wird man nicht mehr unverzichtbar für jemanden.
LUCIE Das ist sehr traurig. Aber sehr schön.
THOMAS Vor allem sehr blöd.
LUCIE Wie war sie?
THOMAS Das erste Mal hab ich sie bei einer Hochzeit gesehen. Wir haben getanzt und getrunken, es war lustig und laut. Sie ist mir aufgefallen,
weil sie das einzige schlecht gelaunte Mädchen war. Ich hab ihr ein
Glas Champagner gebracht. Ich war besoffen. Ich hab ihr das Glas
hingehalten, aber sie hat es nicht genommen. Sie hat mich
angeschaut, als hätte ich sie gebissen. Sie hat gesagt: „Sind Sie
Thomas?“ Ich hab locker geantwortet, ob sie eine Hellseherin wäre.
Sie hat gesagt, sie könnte nur lesen, mein Name stand hinten auf
meiner Jacke. Ich wollte witzig sein und habe gesagt: „Das gibt es
selten, ein hübsches Mädchen, das lesen kann.“ Sie hat mich lange
angeschaut und gesagt: „Marie hat gesagt, Sie sehen ganz gut aus,
aber Sie sind ein Idiot. Ich finde, so gut sehen Sie gar nicht aus.“
Darüber musste ich lachen.
LUCIE Warum war Ihre… zukünftige Frau schlechter Laune?
THOMAS Sie hat sich immer mit irgendwem über irgendwas gestritten. Sie wurde schnell sauer. Sie hat die Konfrontation geliebt. Von da an
haben wir unser Leben damit verbracht, uns anzumotzen.
LUCIE Wie hieß sie?
THOMAS Sandra. Sie hatte eine neapolitanische Großmutter. Das Gen hatte irgendwie eine Generation übersprungen. Sie konnte den Dritten
Weltkrieg entfesseln, wenn die Nudeln nicht al dente waren. Sie
wollte nie so sein wie die anderen und von niemandem abhängig sein. Sie war total unabhängig. Sie hat keinen BH getragen und sich nie
angeschnallt. Sie wollte die Schwerkraft überwinden, aber die
Schwerkraft hat gewonnen.
LUCIE Wie alt sind Ihre Söhne?
THOMAS Sechs und neun…
LUCIE Ich habe sie letztens gesehen. Sie sind wunderbar.
THOMAS Stimmt. Sie sind ihr sehr ähnlich. Vor allem der Große. Er hat sich auch schon mit der ganzen Welt verkracht.
LUCIE Das lässt hoffen.
THOMAS Haben Sie Affären?
LUCIE Kennen Sie Bernard Slade?
THOMAS Mit dem haben Sie eine Affäre?
LUCIE Das ist ein kanadischer Schriftsteller von 86 Jahren. THOMAS Solange er nicht tot ist, ist es legal.
LUCIE In einem seiner Stücke, ich glaube, es ist „Das Mädchen auf der Rückbank“, lässt eine Figur ihre alte Teekanne fallen. Sie bricht mitten
durch. Er klebt sie wieder. Die Reparatur ist unsichtbar. Aber eines
Tages zerspringt die Kanne in tausend Stücke. Ich bin wie die Figur
von Slade. Ich glaube, wenn etwas zerbrochen ist, kann man es nie
mehr ganz kleben.
THOMAS Ich glaube, auch wenn man nicht ohne Darjeeling am Morgen leben kann, darf man sich trotzdem ab und zu ein Tässchen Ceylon gönnen.
Und wenn es nur dafür ist, den Geschmack des Darjeeling wieder
mehr zu schätzen.
LUCIE Trinken Sie morgens Darjeeling?
THOMAS Ich hasse Tee. Das ist heißes Wasser, von dem man gelbe Zähne kriegt.
LUCIE Sie können wirklich bescheuert sein.
THOMAS Sie machen es schon wieder.
LUCIE Was?
THOMAS Sie sagen etwas, aber es klingt wie das Gegenteil. Sie haben „bescheuert“ so gesagt wie „wunderbar“.
LUCIE Monsieur Moreau?
THOMAS Ja, Madame Arnaud?
LUCIE Sie sind manchmal echt „wunderbar“…
THOMAS Was machen Sie jetzt?
LUCIE Ich glaube, ich mache mir ein Glas Gin mit ein bisschen Gurke, dann ist er nicht so bitter.
THOMAS Nein, ich meine mit Ihrem Mann.
LUCIE Ach so… Sie haben mich auf eine Idee gebracht. Ich lasse ihn glauben, ich hätte einen Liebhaber.
szene 9
Thomas ist wieder Ferran
FERRAN (off) Wir brauchen noch ein Geschenk für Bruno. LUCIE Bruno?
FERRAN Ganz!
LUCIE Gibt’s jetzt schon Geschenke für Bruno Ganz? (Ferran tritt auf, er knöpft sich gerade das Hemd zu.)
FERRAN Wir gehen sicher nicht mit leeren Händen zu seinem Geburtstag. Wann ist der?
FERRAN Am Samstag. Wir haben das schon zehnmal besprochen. LUCIE Samstag… Samstag?
FERRAN Ja, Samstag. Samstag der 22.
LUCIE Der Tag nach dem 21.?
FERRAN Und vor dem 23.
LUCIE Am Samstag kann ich nicht. Da bin ich in Frankfurt. FERRAN Was?!
LUCIE An diesem Wochenende fahre ich nach Frankfurt. FERRAN Warum fährst du nach Frankfurt?
LUCIE Da ist eine Tagung zum Thema Autobiografie. FERRAN Was?
LUCIE Mit Charlotte Roche und Hans Magnus Enzensberger. FERRAN Ich glaube, ich spinne.
LUCIE Ja, geht mir auch so. Roche und Enzensberger sind eine verrückte Mischung.
FERRAN Nein, ich glaube, ich spinne, dass du da hinfährst! Ich dachte, du hasst Tagungen!
LUCIE Tu ich auch.
FERRAN Und du hasst Reisen!
LUCIE Stimmt.
FERRAN Ich dachte, du hasst die Deutschen!
LUCIE
Ich hasse Tagungen, Deutsche, überhaupt alle Menschen, Sitzungen
und Signierstunden. Ich hasse alles, aber dieses Jahr fahre ich da hin.
FERRAN Aber warum?
LUCIE Du sagst selber, dass ich nie rauskomme. Jetzt komm ich mal raus, und du motzt mich an.
FERRAN Ich motz dich nicht an. Ich will das bloß verstehen. Du willst nie wegfahren, und plötzlich geht’s nach Frankfurt!
LUCIE Lass mich arbeiten, Ferran.
FERRAN Du arbeitest doch gar nicht. Warum hast du nie was von dieser Reise gesagt?
LUCIE Hab ich wohl vergessen.
FERRAN Vergessen? Du überschreitest höchstens einmal im Jahr die Stadtgrenze, und dann fährst du nach Frankfurt und vergisst es mir zu sagen?
LUCIE Was ist denn los mit dir? Bist du jetzt bei der Stasi? Schau dich mal an, ich glaub, du reißt mir gleich die Haare aus.
FERRAN Du verheimlichst mir irgendwas!
LUCIE Tue ich nicht!
FERRAN Tut mir leid, aber man wacht nicht eines Morgens auf und sagt sich „Ich könnte nach Frankfurt fahren“. Man kann morgens aufwachen
und sich sagen „Ich würde gerne das Meer sehen, ich fahre nach
Saint-Tropez“. Man kann sogar sagen „Ich habe Lust auf Waffeln, ich
fahre nach Brüssel“. Aber man wacht nicht auf und sagt „Ich will
Enzensberger hören, ich fahre nach Frankfurt“. Ich warte hier so
lange, bis du mir erklärst, was du in Frankfurt willst!
LUCIE Du nervst. Es ist wegen des Stücks!
FERRAN Was heißt das, wegen des Stücks?
LUCIE
Es wird ein Stück über das Schreiben. Wie schwierig es ist zu
schreiben. Ich glaube, wenn ich nach Frankfurt fahre, kommen mir
Ideen.
FERRAN Ach so. Entschuldige. Konnte ich ja nicht wissen. Für das Stück. Das ist was anderes. Das ist das Thema?
LUCIE Ja. Das ist sogar der Titel. „Das Thema“.
FERRAN „Das Thema“. Daniel Ferran in „Das Thema“. Nicht schlecht. Geht es um mich?
LUCIE Klar geht’s um dich! Um dich, um mich, um uns beide… Vielleicht schreibe ich sogar auf, was wir jetzt gerade sagen.
(Thomas wird wieder Thomas)
THOMAS Sie gehen zu weit!
LUCIE Was?
THOMAS „Vielleicht schreibe ich sogar auf, was wir jetzt gerade sagen“. LUCIE Können Sie bitte zu Ende lesen, ohne zu unterbrechen? THOMAS Sie haben keine Skrupel.
LUCIE Und Sie keine Konzentration. Los. Noch eine Seite, Sie sind fast durch.
(Thomas wird Ferran)
LUCIE Klar geht’s um dich! Um dich, um mich, um uns beide… Vielleicht schreibe ich sogar auf, was wir jetzt gerade sagen.
FERRAN Erzähl!
LUCIE Es ist noch zu früh.
FERRAN Lass mich wenigstens den Anfang lesen.
LUCIE Nein.
FERRAN Wann kann ich was lesen?
LUCIE Vielleicht, wenn ich aus Frankfurt wieder da bin. Es wird dir gefallen. (Thomas wird Thomas)
LUCIE Und?
THOMAS Ich versteh’s noch nicht.
LUCIE Was verstehen Sie nicht?
THOMAS Was Sie in Frankfurt wollen.
LUCIE Aber ich fahre nicht nach Frankfurt! Darum geht’s doch gerade! Wenn eine Frau ihrem Mann erzählt, dass sie wegfährt, und er dann
an irgendeiner Kleinigkeit merkt, dass sie gar nicht gefahren ist, dann
muss er doch sicher sein, dass sie eine Affäre hat, und macht ihr eine
Riesenszene.
THOMAS Gar nicht so blöd…
LUCIE Sogar ziemlich raffiniert!
THOMAS Und welche Kleinigkeit verrät Sie?
LUCIE Weiß ich noch nicht. Ich dachte, vielleicht fällt Ihnen was ein.
THOMAS Okay… okay… okay… An irgendwas muss er sehen, dass Sie nicht in Frankfurt waren. Ich hab’s. Eine Wurst!
LUCIE Eine Wurst?
THOMAS Ja, Sie kaufen eine Wurst beim Metzger an der Gare de l’Est! Sie sagen, Sie haben ihm Frankfurter Würstchen mitgebracht, aber Sie
lassen das Papier vom Pariser Metzger dran. Er ist doch Inspektor
Fango, der hat einen Blick dafür. Er riecht den Braten.
LUCIE Ferran hat nicht die geringste Beobachtungsgabe. Gestern sind wir seiner Ex-Frau über den Weg gelaufen, und er hat sie nicht mal
erkannt.
THOMAS Ach so. Dann brauchen wir was Eindeutigeres. Ich weiß. Sie müssen irgendwie anders sein. Wenn Sie zurückkommen, muss er merken,
dass etwas mit Ihnen passiert ist. Wie sind Sie, wenn Sie verliebt
sind?
LUCIE Ich weiß nicht. Glücklich?
THOMAS Und woran merkt man das? Schlafen Sie viel?
LUCIE Weiß ich nicht.
THOMAS Oder schlafen Sie weniger?
LUCIE Weiß ich nicht.
THOMAS Essen Sie mehr?
LUCIE Weiß ich nicht.
THOMAS Oder essen Sie gar nicht? Lachen Sie viel?
LUCIE Nein.
THOMAS Sie sind mir keine große Hilfe.
LUCIE Und wie sind Sie, wenn Sie verliebt sind? Wollen Sie mir nicht was von Ihrer letzten Affäre erzählen? Wenn ich konkrete Bilder im Kopf habe,
kann ich besser schreiben
THOMAS Das ist mir unangenehm. Ich bin ein Mann. Das ist was anderes. LUCIE Aber nein!
THOMAS Doch, das ist was anderes. Das ist das Gegenteil. Außerdem finde ich, die Geschichte gehört denen, die sie erlebt haben. Ich würde nicht
wollen, dass…
LUCIE Spielverderber.
THOMAS Weil ich die Privatsphäre respektiere?
LUCIE Typischer Spielverderber-Spruch.
THOMAS Okay, ich bin ein Spielverderber und Sie eine Nervensäge.
LUCIE Klingt überzeugend. Gut. Nehmen wir also mal an, wir hätten eine Affäre gehabt.
THOMAS Wir?
LUCIE Ja, Sie und ich.
THOMAS Ich? Sie? Äh… Ich und Sie?
LUCIE Ist das so abwegig?
THOMAS Nein, also ich weiß nicht.
LUCIE Was heißt „Ich weiß nicht“? Gefalle ich Ihnen nicht? THOMAS Doch, doch, sicher.
LUCIE Also gefalle ich Ihnen?
THOMAS Ja, nein, nicht so…
LUCIE Was heißt „nein, nicht so“?
THOMAS Also… ich stelle mir vor, Sie könnten mir gefallen, wenn…
LUCIE Dann stellen Sie es sich vor! Stellen Sie sich vor, wir hätten uns gefallen. Wir hätten was miteinander gehabt. So verletzen Sie keine
Privatsphäre, ich bin einverstanden. Sie können alles sagen.
THOMAS Okay. Alles?
LUCIE Mein Körper gehört Ihrer Erinnerung. Los, erzählen Sie mir was.
THOMAS Lucie…
LUCIE Hieß sie so? Wie war sie?
THOMAS Sie war verführerisch, aber einfach war es nicht mit ihr… Sie schreibt fürs Theater. Das heißt, sie hat fürs Theater geschrieben. Ich weiß
nicht, was sie jetzt macht. Wie es ihr geht. Es ist nicht gut zu Ende
gegangen.
LUCIE Was ist passiert?
THOMAS Ich glaube, sie hat mich schließlich durchschaut. Hat verstanden, dass ich nicht der war, für den sie mich gehalten hat. Ich enttäusche
meistens, und sie wird meistens enttäuscht. Darauf konnten wir uns
einigen.
LUCIE Es lag also irgendwie an beiden.
THOMAS Sie war trotzdem wütend. Sie hat immer alles irgendwie mit ein bisschen Wut gemacht.
LUCIE Es klingt zärtlich, wenn Sie das sagen.
THOMAS Im Rückblick werde ich immer ein bisschen sentimental. Aber in dem Moment dachte ich wirklich, ich halte es nicht mehr aus.
LUCIE War es so kompliziert?
THOMAS Jede Kleinigkeit war ein Grund für endlose Debatten. Sie war die schlimmste Haarspalterin, die ich je getroffen habe.
LUCIE Das könnten Sie auch anders sagen.
THOMAS Ich drücke mich eben gewählt aus, wenn ich von einer Intellektuellen spreche.
LUCIE Sie konnten ihr nichts recht machen und es hat böse geendet. Warum waren Sie überhaupt zusammen?
THOMAS Es gab tolle Momente. Wir waren in nichts einer Meinung, außer in dem, was wirklich zählt… Wir sind nachts durch Paris gelaufen, wenn
keiner mehr auf der Straße war. Wir haben in den Cafés Gin Tonic
getrunken. Wir haben Leute beobachtet und uns ausgedacht, wer sie
sind. Sie hat immer gesagt, sie hätte keine Fantasie, aber ihr fiel zu
jedem was ein. Ein Typ ging vorbei, Mütze, Schnauzer, dezenter
Hüftschwung. Nur eine Silhouette in der Nacht. Sie hat gesagt:
„Marcel Cornu, zwischen 40 und 65 Jahre alt, ehemaliger Boxer, lebt
schon immer hier.“ Das konnte sie so gut!
LUCIE Und wohin sind Sie nach den Gins gegangen?
THOMAS Natürlich nicht zu ihr und nicht zu mir. In irgendwelche ranzigen Hotels am Bahnhof. Sie liebte alte bedruckte Tapeten und
quietschende Betten. Und ich mochte das auch.
LUCIE Sie haben miteinander geschlafen?
THOMAS Nächtelang. Sie war unersättlich… Eines Abends hat sie mir gesagt, es käme ihr so vor, als hätte sie nur mit mir wirklich Sex gehabt.
LUCIE Bescheiden sind Sie nicht. Aber Sie haben sie enttäuscht.
THOMAS Ich wollte sie glücklich machen, aber ich glaube, danach hat sie gar nicht gesucht.
LUCIE Was hat sie gesucht?
THOMAS Sich selbst.
LUCIE Das, was am schwersten zu finden ist.
THOMAS Also suchen wir ein Hotel?
LUCIE Wie bitte?
THOMAS Wenn Sie nicht nach Frankfurt fahren, können Sie ja nicht hier bleiben. Ein ranziges Hotel am Bahnhof?
LUCIE Oh nein. Ein ranziges Hotel gibt’s nur zu zweit.
szene 10
Lucies Wohnung ist in unbeschreiblicher Unordnung
THOMAS Lucie?
THOMAS Alles in Ordnung? Ich hab Schreie gehört.
(Lucie erscheint. Sie trägt einen Verband an der rechten Hand. Sie
lächelt breit.)
LUCIE Dieser Irre hat sogar das Tischchen meiner Großmutter zerdeppert!
THOMAS Hat er Sie etwa geschlagen?
LUCIE Das war ich selber. Ich habe mich verletzt, als ich ihm eine geschmiert habe.
THOMAS Was ist passiert?
LUCIE Er ist total ausgetickt. Er war schon auf 180, als er reinkam. Er hat alles auf den Kopf gestellt und mich beschimpft. Also habe ich ihm
eine gescheuert.
THOMAS Moment mal… Ich versteh es noch nicht. Er hat doch geglaubt, dass Sie in Frankfurt sind?
LUCIE Ja sicher! Dieser Vollidiot.
THOMAS Moment. Fangen Sie von vorne an.
LUCIE Gestern Morgen war ich hier in Paris, in dem hübschen kleinen Hotel, das Sie für mich gefunden haben. Ferran ruft an. Er fragt, wo ich bin.
Ich sage „In Frankfurt“. Er fragt „Wo?“. Ich antworte „Im Hotel, im
Steigenberger“. Und wissen Sie, was er darauf sagt? „Welches
Zimmer? Ich stehe in der Lobby.“
THOMAS Er war in Frankfurt?!
LUCIE In der Lobby! Er ist die ganze Nacht durchgefahren, um mich zu überraschen.
THOMAS Scheiße.
LUCIE Allerdings! Dabei hatte ich ihm ausdrücklich gesagt, er soll nicht kommen!
THOMAS Das ist natürlich irgendwie das Prinzip einer Überraschung.
LUCIE Kann sein, aber wenn man jemandem sagt, dass man nicht überrascht werden will, und er überrascht einen trotzdem, dann ist
es keine Überraschung mehr.
THOMAS Es ist keine schöne Überraschung, aber immer noch eine Überraschung.
LUCIE (schroff) Wollen Sie wissen, wie es weitergeht, oder bleiben wir an diesem Überraschungs-Ding hängen?
THOMAS Entschuldigung. Erzählen Sie weiter.
LUCIE Also, Ferran ist in der Lobby in Frankfurt, und da stolpert er auch noch über die ganze Mannschaft vom Verlag! Er versteht, dass ich
nie ernsthaft vorhatte, da hinzufahren. Also ist er wieder
zurückgefahren. Er kam hier an wie eine Kanonenkugel, und dann
war Waterloo! Er hat rumgebrüllt, hat geschrien, dass ich ihn
betrüge und eine dreckige Lügnerin bin, und da hab ich ihn
geohrfeigt.
THOMAS Sie haben ja auch gelogen…
LUCIE Das ist kein Grund. So redet man nicht mit seiner Frau. THOMAS Aber Sie haben ihm schon gesagt, dass das alles nur erfunden war?
LUCIE Sind Sie bescheuert? Das war unser bester Streit aller Zeiten! Er hat sich total gehen lassen und mir Sachen gesagt, die er noch nie
gesagt hat. Das hatte eine solche Kraft! Er hat mich behandelt wie
die letzte Schlampe, das war unglaublich!
THOMAS Es tut mir leid, dass ich Sie auf die Idee gebracht habe. Sie machen Ihre Beziehung kaputt. So werden sie Ferran verlieren.
LUCIE Ihn verlieren? Er ist doch kein Schlüsselbund! THOMAS Sie sehen doch, dass er weg ist. Wissen Sie denn, wo er ist? LUCIE Ja. Er sucht in ganz Paris nach Eric.
THOMAS Eric?
LUCIE Eric Elmosnino. Eric hat in meinem ersten Stück mitgespielt. Er war verdammt gut. Ferran war immer eifersüchtig auf Eric. Er ist sicher,
dass er mein Liebhaber ist, und will ihm die Fresse einschlagen.
THOMAS Das geht übel aus. Das mit Ihrem Mann geht übel aus. Ich an seiner Stelle…
LUCIE Sie haben keine Ahnung von Schauspielern. Das ist wie eine Überraschungsparty für ihn. Sein Geschenk ist das Stück. Er kennt
seine Rolle in- und auswendig, weil er sie schon gespielt hat. Er muss
nur die Augen schließen, dann ist alles da, zum Greifen nah. Er ist
seine eigene Quelle der Inspiration. Glauben Sie mir, wenn er damit
Erfolg hat, wird er mir dankbar sein. Sehen Sie nicht, dass ich
glücklich bin? Endlich kann ich schreiben. Ich fühle mich lebendig.
Das ist wie eine Paartherapie! Wir sagen uns alles, und am Ende
kriegt jeder, was er will. Ich habe mein Stück und er seine Rolle. Sie
fühlen sich schuldig, weil Sie mir diese wunderbare Idee geliefert
haben. Aber dafür gibt es keinen Grund.
THOMAS Ich hatte diese Idee, weil ich Sie aufwecken wollte. Sie vor Ihrer Traurigkeit retten. Sie kamen mir so verloren vor… Außerdem wollte
ich Ihnen auch imponieren. Aber ich fürchte, jetzt gehen Sie zu weit.
Streiten ist für ein Paar eine Art Kampfsport. Man muss seinen
Gegner kennen. Ihm weh tun, aber nicht zu weit gehen. Dafür braucht es Training. Sie beide sind ein Paar, das nie streitet. Sie haben keine
Übung. Ein schwedisches Paar. Ausgeglichen. Maßvoll.
Sozialdemokratisch. Man landet nicht mit einem Fingerschnippen in
Neapel… Sie werden sich Sachen sagen, die Ihnen später leidtun.
Für Sie ist es nur ein Spiel, aber für ihn ist es echt. Er lebt diese Krise.
Er spürt sie ganz real. Er glaubt wirklich, dass er Sie verliert. Ist Ihnen
das klar? Es reicht nicht, dass Sie einen Witz draus machen, damit er
alles vergisst. Er wird seine Teekanne zerbrechen, und nichts kann sie
wieder kleben.
LUCIE Vielleicht haben Sie recht.
THOMAS Natürlich habe ich recht.
LUCIE Aber wenn ich es ihm sage, habe ich kein Stück mehr.
THOMAS Aber was reden Sie da? Sie haben alles, was Sie brauchen. Der Anfang… der Anfang zum Beispiel ist schon mal gut. Die
Schriftstellerin, die nicht mehr schreiben kann. Dann geht’s weiter! Es
wird immer besser! Sie erfahren, dass das Stück auf dem Spielplan
steht, Sie stehen mit dem Rücken zur Wand, Sie haben gelogen, um
Zeit zu gewinnen, aber das ist vorbei! Jetzt geht es weiter! Es geht
erst richtig los! Nichts ist vorbei! Ja, das ist gut! Das ist spannend, da
geht’s um was. Alle werden sich fragen, wie Sie da rauskommen!
Ja, die Leute fragen sich „Wie kommt sie da wieder raus?“ „Weiß ich
nicht!“ „Und du?“ „Ich weiß auch nicht!“ „Du auch nicht?“ Doch, ich
weiß es! Denn jetzt kommt die Idee mit der Lüge, genau! Wie ein
Spieler im Casino setzen Sie alles auf eine Karte! Sie haben gelogen
für Ihr Stück! Und Sie lügen immer weiter! Und das Tolle ist, dass die
Lüge selbst das Thema des Stücks wird. Sie erfinden eine Affäre. Sie
erfinden eine Geschichte, und die Erfindung wird zur Geschichte. Die
Dramatikerin will ihre Beziehung mit ihrem Stück retten und ihr Stück
mit der Beziehung. Das ist Wahnsinn, aber die Erfindung holt sie ein.
Die Lüge gerät außer Kontrolle. Das ist Frankfurt! Der Streit! Ihr Mann
verlässt sie. Die Wirklichkeit holt die
Fiktion ein! Die Fiktion holt die Wirklichkeit ein! Jeder holt jeden ein!
LUCIE Das ist nicht schlecht…
THOMAS Nicht schlecht?! Das ist der Wahnsinn! Das hätte mir mal einfallen sollen!
LUCIE Wenn ich es Ferran jetzt sage, hört alles auf, und ich habe keinen dritten Akt!
THOMAS Aber was sagen Sie denn da? Denken Sie doch mal nach! Sie hatten gerade einen großen Streit. Er ist gegangen. Das macht Sie fertig. Ja,
das macht Sie fertig. Sie merken, wie wichtig er Ihnen ist. Sie
beschließen, mit der Komödie aufzuhören. Sie hören mit allem auf.
Sie laufen ihm nach. Sie finden ihn und geben ihm das Stück zu lesen.
Er hat Sie verlassen, aber mit Ihrem Stück gewinnen Sie ihn zurück!
Das ist ein sehr schönes Ende…
szene 11
Lucie verbindet Thomas Kopf.
LUCIE Was ist passiert?
THOMAS Das frage ich Sie! Ich war einkaufen. Da krieg ich einen Anruf von Herrn Bertier, der sagt, „Kommen Sie schnell, Inspektor Fango
schlägt gerade Ihre Tür ein“. Ich laufe zurück, und bevor ich den
Mund aufmachen kann, habe ich einen Golfschläger im Gesicht. Was
haben Sie ihm denn erzählt?
LUCIE Ich hab alles so gemacht, wie Sie gesagt haben, aber es hat nicht funktioniert. Ich habe ihn angerufen, weil ich ihn sehen wollte. Wir
haben uns in einem Café getroffen. Ich hatte das Stück dabei. Ich
hab’s ihm vorgelesen. Aber am Ende des ersten Akts ist er
aufgestanden und gegangen.
THOMAS Aber warum ist er dann zu mir gekommen?
LUCIE Er glaubt, dass Sie mein Liebhaber sind! Am Ende des ersten Akts kommen wir uns näher, wir sehen uns jeden Abend… Da liefern Sie
mir die Idee zum Stück! Sie wissen schon, das ist die witzige Szene,
wo Sie mir erzählen, dass Sie Ihren Job verloren haben. Wo Sie mir
sagen, dass Sie den kleinen Schneemann aus Baiser auf der
Weihnachtstorte für die Direktion gegessen haben.
THOMAS Moment mal, ich versteh noch nicht… Ich komme im Stück vor? LUCIE Natürlich kommen Sie im Stück vor.
THOMAS Ich bin eine Figur?! Heißt das, dass ein Schauspieler mich spielen wird?
LUCIE Aber sicher.
THOMAS Das geht doch nicht! Das haben Sie mir nie zu lesen gegeben!
LUCIE Ich lasse Sie doch nicht die Szenen lesen, die wir zusammen erlebt haben!
THOMAS Aber… Was erzählen Sie von uns?
LUCIE Alles. Na ja, fast. Wie Sie das erste Mal gekommen sind. Die übergelaufene
Badewanne. Wie Sie die Pizza aus dem Fenster geworfen haben…
Wie Sie mir die Idee geliefert haben. Unsere besten Momente…
THOMAS Sie hätten mich fragen müssen!
LUCIE Das war Ihre Idee!
THOMAS Sie sollten über Ihr Leben schreiben, nicht über meins! LUCIE Aber Sie sind in mein Leben getreten. Jetzt gehören Sie dazu. THOMAS Verwenden Sie meinen Namen?
LUCIE Das wissen Sie doch. Sie haben meine Stücke gelesen! THOMAS Ich bin aber nicht einverstanden!
LUCIE Wenn es um Ferran geht, sind Sie nicht so zimperlich! Er hätte Grund, sauer zu sein. Ihm habe ich was vorgemacht, Sie wussten
alles von Anfang an.
THOMAS Aber er ist Ihr Mann! Das ist alles für ihn!
LUCIE Es ist nichts gegen Sie.
THOMAS Aber Sie sprechen nicht von meiner Frau, oder? Ich verbiete Ihnen, von ihr zu sprechen!
LUCIE Sie verbieten mir gar nichts! Spielen Sie nicht das Unschuldslamm! Sie wissen, dass ich schreibe, was ich lebe, und dass ich nichts
erfinde. Ich arbeite mit meinem Leben.
THOMAS Aber das ist mein Leben!
LUCIE Jetzt ist es auch meins!
THOMAS Das ist Diebstahl!
LUCIE Oh nein! Ich habe Ihnen nichts gestohlen. Alles, was ich weiß, weiß ich nur, weil Sie es mir erzählen wollten. Ich habe Sie nicht
gezwungen, mir etwas anzuvertrauen. Wenn Sie wollen, dass es
geheim bleibt, reden Sie mit einem Psychologen oder einem Pfarrer!
Nicht mit einem Schriftsteller.
THOMAS Das gibt Ihnen kein Recht!
LUCIE Ein Schriftsteller nimmt sich das Recht! Schreiben heißt frei sein! Glauben Sie, dass Proust…
THOMAS Ich scheiß auf Proust! Das sind meine Erinnerungen, nicht Ihre! Sie kennen meine Frau nicht! Sie kennen meine Kinder nicht! Das ist
nicht Ihre Geschichte! Das ist unsere Geschichte, und sie gehört nur
uns allein! Sie wissen genau, ich hätte nie so viel erzählt, wenn ich
gewusst hätte, dass Sie es benutzen. Sie wissen das, aber jetzt tun
Sie so, als wäre es ganz neu für Sie. Sie sind total verlogen!
LUCIE Ich behaupte gar nicht, Ihre Frau zu kennen. Aber jetzt existiert sie für mich. Sie wissen besser als jeder andere, wie ich schreibe. Sie
können mich schamlos und exhibitionistisch finden, aber nicht
verlogen!
szene 12
Lucie schickt Voicemails an Thomas
LUCIE Bitte antworten Sie. Thomas, bitte… Ich sehe doch, dass Sie online sind. Ich sehe, dass sie meine Nachrichten anhören. Ich habe auch
gehört, wie Sie nach Hause gekommen sind. Ich…
(Sie schickt ab.)
Thomas? Wenn Sie wollen, ändere ich Ihren Namen. Dann wissen nur wir beide, dass Sie das sind. Ich verspreche Ihnen, dass ich nichts
geschrieben habe, was die Erinnerung an Ihre Frau beschädigt. Ich
habe nur verwendet, was Sie gesagt haben. Und niemand… Ich
meine, alle Frauen wären glücklich, wenn jemand so von ihnen
spricht. Das ist nichts…
(Sie schickt ab)
Thomas? Ich kann Sie nicht zwingen, zu antworten, aber ich kann
Sie kidnappen, Sie einsperren und warten, bis Sie das Stockholm
Syndrom entwickeln…
(Sie schickt ab)
Ich lege Ihnen das Stück vor die Tür. Wenn Sie mir dann nicht
antworten, setz ich Sie unter Wasser. Haben Sie das verstanden?
Ich setze Sie noch mal unter Wasser!

STIMME VON THOMAS
Lucie. Heben Sie nicht ab. Sonst lege ich auf… Ich werde nicht antworten. Ich werde Ihnen nicht schreiben und will nicht, dass wir uns noch mal sprechen. Ich will nicht, dass meine Worte in einem Theaterstück vorkommen, das Hunderte von Menschen sehen, die ich nicht kenne. Wenn Sie mich trotzdem überschwemmen wollen, muss ich Ihnen sagen, dass ich heute ausziehe. Ich verabschiede mich. Ich wünsche Ihnen… Ich weiß nicht, was ich Ihnen wünschen soll, weil ich nicht ganz verstanden habe, was Sie wirklich suchen. Ich glaube, Sie sollten versuchen, sich mit Ihrem Mann zu versöhnen. Ihn um Verzeihung bitten. Sagen Sie ihm, er soll es lieber mit Tennis versuchen als mit Golf. Er hat eine gute Vorhand.

szene 13
Ferran packt
LUCIE Verlässt du mich? Verlässt du mich, weil ich behauptet habe, ich hätte eine Affäre?
FERRAN Wenn du mich lieben würdest, hättest du das nicht getan.
LUCIE Also, wenn man es wirklich macht, ist es okay, aber nicht, wenn man nur so tut? Du sagst, ich hätte es nicht tun können, wenn ich dich
wirklich lieben würde. Aber du betrügst mich wirklich und liebst mich
wirklich, oder?
FERRAN Ich habe dich nie betrogen.
LUCIE Nein, natürlich nicht.
FERRAN Vielleicht hab ich dich schon mal angelogen. Ist das armselig? Ist das feige? Jämmerlich? Alles, was du willst, aber das ist menschlich.
Aber warum hast du mich angelogen?
LUCIE Es war wie ein Spiel. Ich dachte, das weckt uns auf. Und ich hab eine Idee gebraucht, um eine Rolle für dich zu schreiben.
FERRAN Nicht eine Rolle für mich, sondern ein Stück für dich. Merkst du den Unterschied? Du hast mich gequält und zugeschaut, wie ich leide, wie
ein Kind, das einer Spinne die Beine ausreißt.
LUCIE Ich hab dich gequält, weil ich behauptet habe, dass ich nach Frankfurt fahre? Du solltest mal zwei Tage in ein syrisches Gefängnis, das rückt
dir den Kopf gerade.
FERRAN Mit Sprüchen kommst du nicht davon. Du hast gejubelt, dass es mir schlecht ging. Das ist krank. Das ist monströs. Ein Monster nährt sich
vom Schmerz der anderen.
LUCIE Ich bin ein Monster?
FERRAN Du willst gar nichts wirklich erleben. Du brauchst alles nur als Stoff.
LUCIE Das ist nicht das Problem. Du hältst es nicht aus, dass du es nicht kapiert hast. Du bist voll drauf reingefallen! Der große Ferran! Die
Sphinx hat sich verarschen lassen! Das erträgst du nicht!
FERRAN Ich wusste nicht, dass du mich so siehst.
LUCIE Und ich wusste nicht, dass du so reagierst. Ich wollte dir ein Geschenk machen. Ich habe dir diese Rolle versprochen. Weißt du
noch? Die Rolle deines Lebens.
FERRAN Ich dachte, die Rolle meines Lebens ist, dein Mann zu sein. LUCIE Du gehst also?
FERRAN Ja.
LUCIE Und du spielst das Stück nicht?
FERRAN Ich hab’s schon einmal gespielt. Ich hab keine Lust, es noch mal zu spielen.
LUCIE Du wärst wunderbar gewesen.
FERRAN Ich hoffe, ich war’s ein bisschen.
FERRAN Gib die Rolle Elmosnino. Er macht das perfekt. Ich glaube, das wird dein bestes Stück.
LUCIE Meinst du?
FERRAN Es ist immer schön, wenn eine Liebe beginnt. War dumm von mir, dass ich ihm den Schädel eingeschlagen habe. Sag ihm, es tut mir
leid.
LUCIE Er ist weg.
FERRAN Er auch?
LUCIE Ja.
FERRAN Dann hast du uns beide verloren. Den Mann, den du nicht mehr liebst, und den, den du gerade angefangen hast zu lieben. Ist schon
gut. Du kannst nicht leben, ohne zu schreiben, aber du kannst
leben, ohne zu lieben.
szene 14
LUCIE Sie sind zurückgekommen?
THOMAS Ja. Ist ziemlich ähnlich geworden. Die Atmosphäre ist ein bisschen anders, aber sonst habe ich es so in Erinnerung. Die Bilder sind
anders…
LUCIE Und der Rest?
THOMAS Der Rest? War auch ziemlich original.
LUCIE Thomas?
THOMAS Ja?
LUCIE Wenn man einen Schauspieler oder einen Autor nach der Premiere trifft, redet man nicht vom Bühnenbild.
THOMAS Ach so?
LUCIE Nein. Sonst glaubt er, dass man etwas nicht sagen will. THOMAS Aha…
LUCIE Man geht nur hinter die Bühne, wenn man jemandem was Nettes sagen will. Sogar wenn man es gar nicht so meint. Man gibt sich ein
bisschen Mühe.
THOMAS Es hat mir gefallen!
LUCIE Wirklich?
THOMAS Ja, wirklich!
LUCIE Na, das kam ja spontan!
THOMAS Nein, nein… Mir… mir hat’s gefallen, ehrlich. Am Anfang hatte ich ein bisschen Angst. Ich hab mich seltsam gefühlt. Aber es hat mich
berührt. Aufgewühlt. Es war auch ein bisschen komisch. Vor allem
der, der mich gespielt hat… Man hat gesehen, dass er noch nie
gekocht hat. Aber sonst ist er gut! Die Schauspielerin, die Sie gespielt
hat, mochte ich auch sehr. Sie ist Ihnen nicht sehr ähnlich, aber es
funktioniert. Und Ferran ist eine Klasse für sich. Er hätte meine Rolle
spielen sollen.
(beide lachen.)
LUCIE Irgendwas hat Sie gestört.
THOMAS Nein, nein.
LUCIE Sie drücken sich um irgendwas herum. Sagen Sie’s mir.
THOMAS Wir sind doch im Theater. Ich möchte nicht… Na gut, Ich finde das Ende nicht so glaubwürdig.
THOMAS Ja. Man glaubt nicht, dass sie ihn liebt. Thomas, meine ich. Ich hab es nicht geglaubt.
LUCIE Sie glauben nicht, dass sie Thomas liebt?
THOMAS Nein. Sonst hätte sie sich entschuldigt.
LUCIE Aber sie hat ihn zehnmal angerufen!
THOMAS Sie hätte ihm einen Brief schreiben können. Immerhin ist sie Schriftstellerin.
LUCIE Aber… das wollte er doch nicht.
THOMAS Seit wann macht Lucie Arnaud, was irgendjemand will? LUCIE Hätte er geantwortet?
THOMAS Weiß ich nicht.
LUCIE Sehen Sie? Die schönsten Geschichten sind manchmal die, zu denen es gar nicht kommt.
THOMAS Ich glaube, das ist es, was mich stört. Das Ende ist zu traurig. LUCIE So wie häufig das Leben.
THOMAS Kann sein. Aber ins Theater gehen ist anders als aus dem Fenster schauen. Das echte Leben sehen wir jeden Tag. Aber Theater ist noch
was anderes, oder?
LUCIE Vielleicht gehen wir auch hin, um das Leben besser zu verstehen. Um zu merken, dass wir nicht allein sind…
THOMAS Aber wenn Sie keine Geschichten schreiben, die es nicht gibt, wo soll man die dann erleben?
LUCIE Was für ein Ende hätten Sie sich denn gewünscht? THOMAS Ein Happy End.
LUCIE Ein Happy End? Wie furchtbar!
THOMAS Ja. Sie hätte ihm keine Nachricht geschrieben, aber sie hätte das Stück für ihn geschrieben. Um ihm zu sagen, dass sie ihn liebt. Er
würde es verstehen. So blöd ist er nämlich nicht.
LUCIE Meinen Sie?
THOMAS Ja. Er ist sogar sehr intelligent.
(Sie lächeln sich an.)
THOMAS Er würde zurückkommen. Sie wäre überrascht, hätte ihn aber auch irgendwie erwartet. Sie hatte Angst, dass er nicht kommt, aber er
wäre gekommen. Er würde nicht in die Garderobe gehen, weil er sie
alleine sehen will. Nein, er würde sie auf der Bühne treffen.
LUCIE Wäre es kein komisches Gefühl?
THOMAS Nur ein bisschen Lampenfieber. Er wäre ungeschickt. Würde ein Kompliment fürs Bühnenbild machen, und sie würde ihm den Kopf
waschen.
LUCIE Sie ist also immer noch ein Kotzbrocken.
THOMAS Und er ein Spielverderber. Er würde sogar sagen, dass ihm das Ende nicht gefallen hat.
LUCIE Total taktlos. Wie würde sie reagieren?
THOMAS Eine kleine narzisstische Kränkung, aber nichts Schlimmes. Es würde sie interessieren. Sie würde es wissen wollen.
THOMAS Sie würde zu ihm gehen und würde ihn fragen… … LUCIE „Was für ein Ende hätten Sie sich denn gewünscht?“
THOMAS Er würde antworten, dass er gerne mit ihr zusammen eine neue Geschichte anfangen würde. Es gäbe eine Gesprächspause.
Vielleicht ein bisschen Musik aus dem Hintergrund. Ein letzter
Lichtwechsel Sie wären alleine auf der leeren Bühne. Er würde einen
Schritt auf sie zugehen. … und er würde sagen: „Willst du mich
küssen?“ Willst du mich küssen?
LUCIE Nein.
ENDE

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Theaterstück

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