Heidenröslein

(Sah ein Knab ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden)

Goethes Gedicht mit der zum Volkslied gewordenen Melodie von Heinrich Werner

Downloadformate

Musiknoten zum Lied - Heidenröslein

Sah ein Knab ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
war so jung und morgenschön,
lief er schnell, es nah zu sehn,
sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: Ich steche dich,
dass du ewig denkst an mich,
und ich will's nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
half ihm doch kein Weh und Ach,
musst'es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Goethes Gedicht »Heidenröslein« wurde über 150 Mal vertont, unter anderem von Robert Schuman und Franz Schubert. Eine weitere Vertonung stammt von Johann Friedrich Reichardt. Als Volkslied hat sich jedoch nur die hier vorgestellte Melodie des Braunschweiger Musiklehrers und Chorleiters Heinrich Werner behaupten können. Erstmalig am 20. Januar 1829 im Konzert der Braunschweiger Liedertafel vorgetragen, erfreut sich Goethes Gedicht mit Werners Melodie bis heute großer Beliebtheit.

In seinem 1771 veröffentlichten Meisterwerk »Heidenröschen« präsentiert Johann Wolfgang von Goethe eine Vielfalt an Themen und Motiven. »Heidenröschen« ist nicht einfach nur ein Loblied auf die Schönheit der Natur, sondern auch eine Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens, die Liebe und die Sehnsucht nach dem Ewigen. Denn die Epoche, in der Goethe lebte, war geprägt von einem starken Interesse an der Natur einerseits und an der Romantik anderseits, was sich wiederspielt in der Schönheit und Zerbrechlichkeit der Natur. Beides griff Goethe auf und packte es in drei Strophen, die beinahe wie ein Lehrgedicht über das Leben klingen. Denn ein Knabe sieht ein schönes Röslein, das ihm gefällt. Er will es unbedingt haben, obwohl das Röslein ihn warnt, dass es ihn stechen wird. Doch der Knabe lässt sich nicht aufhalten. Er bricht das Röslein – und wird gestochen und leidet Schmerz.

Doch auch das Röslein ist zum Tod verurteilt, denn ohne Verbindung zu Stiel und Wurzel kann es nicht überleben. So hat die Schönheit dem Röslein das Leben gekostet, obwohl der Knabe es gerade wegen der Schönheit besitzen wollte. Die Verehrung des Knaben bringt dem Röslein den Tod. Ein Spiegel auf unser tägliches Leben. Denn wie oft tun wir ausgerechnet den Menschen weh, die wir lieben. Wie oft erdrücken wir andere mit unserer Liebe und stehen am Ende vor einem emotionalen Scherbenhaufen.

Die Vergänglichkeit des Lebens

Das Schicksal des »Heidenröschen« zeigt aber noch ein weiteres Motiv auf: die Vergänglichkeit des Augenblicks. Dabei steht das Heidenröschen, die schöne und zarte Blume, metaphorisch für die Jugend und die Schönheit, die jedoch beide schnell vergehen können. Das stolze Röslein wird "gepflückt und welk", ein Symbol dafür, dass nichts im Leben von Dauer ist, schon gar nicht die Schönheit und Jugend. Alles ist vergänglich, nur auf Zeit geborgt. Darum sollten wir die kostbaren Momente im Leben schätzen und bewusst erleben, denn sie können schnell entschwinden und zu einer bloßen Erinnerung verblassen. So auch die Liebe, die oft poetisch durch rote Rosen symbolisiert wird. Sie will gepflegt werden als etwas Wunderbares, das wir schätzen und bewahren sollten, aber nicht stürmisch brechen wie das rote Röslein in Goethes Gedicht. Denn das Röslein mag eine Trophäe sein, die den Augenblick einfängt, doch die gepflückte Blüte beginnt schnell zu welken und vergeht, während das Röslein am Strauch einen ganzen Sommer lang mit seiner Schönheit erfreuen kann.

Der Knabe, fasziniert von der Schönheit des Rösleins, kann aber der Versuchung, die Blüte zu pflücken, nicht widerstehen. In seinen Worten und seiner Tat spiegeln sich Verliebtheit und das Begehren, das zarte Geschöpf zu besitzen. Doch das Röslein, unwillig, sich dem Willen des Knaben hinzugeben, wehrt sich gegen diesen groben Annäherungsversuch und sticht den Knaben mit seinen Dornen.

Goethe hält uns mit dieser Naturfabel einen Spiegel vor. Denn nur allzu oft zerstören wir mit unserem unbeherrschten Drang etwas besitzen und kontrollieren zu wollen, gerade das, was wir eigentlich lieben, schätzen und bewahren wollen. Manchmal muss man loslassen, was man festhalten möchte. Und vor allem: einfach den Augenblick genießen, bevor er entflieht.

Claudia Nicolai, 22. April 2024

 Top