Heute, zum 35. Jahrestag ihrer Gründung, ist es an der Zeit, die Geschichte der Solidarność neu zu schreiben. Denn die simple, romantische Heldengeschichte, die sich durch Medienberichte und Politikerreden zu Jahrestagen wie diesem in unseren Köpfen festgesetzt hat, stimmt so nicht.   

Zur Erinnerung: In dieser Version der Geschichte haben sich im August 1980 mutige Arbeiterinnen und Arbeiter gegen aufrollende Panzer gestellt. Ein Elektriker aus Danzig, Lech Wałęsa, hat mit seiner Unterschrift unter das Abkommen von Danzig Weltgeschichte geschrieben: Die staatssozialistische Regierung erkennt die unabhängige, selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarność an. Im Dezember 1981 ruft General Jaruzelski das Kriegsrecht aus und lässt die Solidarność gewaltsam niederschlagen. Die Solidarność überdauert diese Zeit im Untergrund. 1989 gewinnt sie dann doch noch: die Wahlen und den Kampf gegen das staatssozialistische System.   

Die historischen Quellen erzählen allerdings eine andere Geschichte: In Wirklichkeit ist es nicht die Solidarność, die diese Wahlen gewinnt, es ist eine Bewegung, die den Namen der Solidarność trägt, aber sonst nicht viel mit ihr gemeinsam hat. 1989 ist die Solidarność keine Massen-, sondern eine Elitenbewegung geworden, die als "Bürgerkomitee 'Solidarność'" die Verhandlungen am Runden Tisch führt und die Wahl gewinnt. Über diesen Wandel wird damals aber kaum gesprochen, weil die Verhandlungsposition des Bürgerkomitees davon abhängt, dass es für möglichst große Teile der Arbeiterschaft sprechen kann.   

Die ruhige Entschlossenheit der Streikenden

Heute, 35 Jahre nach der Gründung der Solidarność, ist es an der Zeit, eine andere Geschichte zu erzählen, die am Ende auch ein neues Licht auf die heutigen Streitereien der ehemaligen Weggefährten und Weggefährtinnen werfen wird.      

Die Solidarność war unter anderem deshalb so viel erfolgreicher als alle anderen Widerstandsbewegungen in Ostmitteleuropa, weil in ihr verschiedene Milieus zusammenarbeiten: Arbeiter und Intellektuelle, Katholiken und Linke. Das ist nicht nur das Verdienst des polnischen Papstes, wie es in den Medienberichten oft scheint, sondern das Verdienst von kritischen Linken und Linkskatholiken, die Anfang der 1970er in einem offenen Dialog Jahre des Misstrauens zwischen Linken und Katholiken überwinden. Aktivisten und Aktivistinnen aus diesem Milieu gründen nach den Arbeiterstreiks 1976 ein Komitee zum Schutz der Arbeiter, KOR, durch das sie erste Kontakte ins Arbeitermilieu knüpfen. Das KOR wiederum konzipiert Opposition als "Selbstverteidigung der Gesellschaft". Das Ziel ist, möglichst viele vom Regime unabhängige, apolitische Initiativen zu gründen, und so zu leben, als ob man bereits in einer Demokratie angekommen sei. Die Solidarność greift diesen Aufruf auf und ergänzt ihn um die eigentlich als "unmöglich" geltende Forderung, dass ihre Gewerkschaftsinitiative als politische Institution offiziell anerkannt werden soll. Die oppositionelle Intelligenz ist beeindruckt von der Würde und der "ruhigen Entschlossenheit der Streikenden, der spontanen Disziplin, der Reife der Forderungen", und unterstützt die Solidarność als Berater und Beraterinnen, als Drucker und Druckerinnen, als Pressesprecher und Pressesprecherinnen.  

Die Solidarność wird zu einer Bewegung, "in der alles gesagt werden kann": Jede und jeder hatte das Recht, das Wort zu ergreifen, jede Position wird erst einmal angehört und akzeptiert. Es ist schwer vorstellbar, wie eine solche "Debattierdemokratie" (Ireneusz Krzemiński) funktioniert haben soll – schließlich hat die Solidarność zwischenzeitlich knapp zehn Millionen Mitglieder. Doch in den 16 Monaten bis zur Ausrufung des Kriegszustandes gelingt es den Aktivisten und Aktivistinnen erstaunlich gut, sich immer wieder zu einigen und, bis auf wenige Ausnahmen, von allzu radikalen Stellungnahmen Abstand zu nehmen. Das hat auch damit zu tun, dass es letztlich um konkrete Fragen des alltäglichen Lebens geht und dass die Aktivisten und Aktivistinnen als Gewerkschaftsvertreter ihrer eigenen lokalen Mitgliedschaft gegenüber Rechenschaft ablegen müssen.       

Abnehmende Risikobereitschaft

Die "Debattierdemokratie" der Solidarność wird durch die Ausrufung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 gewaltsam beendet. Über 1.000 Aktivisten und Aktivistinnen werden verhaftet. Einige von ihnen gehen in den Untergrund. Dort drucken sie Untergrundzeitschriften und -zeitungen, und von dort aus repräsentieren sie die Unbeugsamkeit der Solidarność: Der letzte, Zbigniew Bujak, wird erst 1986 verhaftet. Trotz zahlreicher Heldengeschichten aus Haft und Untergrund zeigt sich aber bald, dass die Bereitschaft, für die Solidarność Risiken einzugehen, immer mehr schwindet. Geheimdienstschätzungen gehen seit dem Winter 1983/84 davon aus, dass die Untergrund-Solidarność keine größeren Massen mehr mobilisieren kann. Zudem haben die Bedingungen des Kriegszustandes die Struktur der Bewegung verändert: 1980/81 hatten Arbeiter und Arbeiterinnen gemeinsam mit Intellektuellen protestiert, in den Jahren des Untergrundes sind kaum noch Arbeiter und Arbeiterinnen aktiv. 

Die Untergrund-Solidarność ist eine Intellektuellenbewegung geworden, deren einzige Hoffnung darin besteht, den Kriegszustand "zu überdauern". Sie hofft, dass die Regierung letztlich zu schwach sein wird, um die dringend nötigen Wirtschaftsreformen aus eigener Kraft anzugehen – und deshalb irgendwann wieder mit der Solidarność verhandeln wird. Da die Regierung versucht, die Solidarność durch Kollaborationsangebote an einzelne Führer oder Inhaftierte zu spalten, setzt die Elitenbewegung alles daran, trotz der unleugbaren Veränderungen die Einheit und Kontinuität der Bewegung zu betonen: "Wir, die Solidarność".